Der Pinsel und die Maus  
eine "Dilemma"-Geschichte mit Happyend



Auf dem Arbeitstisch stand ein hohes Konfitürenglas voller Pinsel: dicke, dünne, flache, feine spitzige, breite und schmale. Mittendrin reckte sich einer von ihnen selbstbewusst in die Höhe. Er war der Liebling seiner Meisterin, weil er mit seinen mittleren Massen für fast alles zu gebrauchen war. Dafür musste er auch viel mehr arbeiten als seine Kollegen, was er aber ausschliesslich als Bevorzugung empfand. Er war eitel und auf gutes Aussehen bedacht und wollte nicht, dass man ihm die gelegentlichen Strapazen ansehen konnte. Nach seinen Einsätzen machte er sich immer wieder ordentlich zurecht. Beim Baden und gründlichen Waschen machte er gute Miene zu der unumgänglichen Prozedur. Nachher streckte er beim Trocknen solange seine Haare straff und gerade in die Höhe, bis seine Pinselfrisur perfekt sass.Von seinem Konfiglas aus hatte er einen guten Ueberblick auf das ganze Umgelände. Da waren bunte Farbtuben, -töpfe und -schachteln, Ölkreiden, schneeweisse Kartonpapiere und vieles mehr, das ihm zur Verfügung stand. Es gab auch zwei Wassertöpfe, den einen zum Farbenmischen, den andern, um sich immer wieder ausspülen zu lassen. Ferner alle möglichen Bleistifte, Schneidemesser usw. Er kannte sie alle. 

Und so wartete er mit Vorfreude von Mal zu Mal, bis sich seine Herrin ihm wieder zuwandte und er sie durch seinen geschmeidigen und zügigen Pinselstrich zu kreativen Schöpfungen inspirieren konnte. Vieles, was da entstand, war sein Verdienst, das war natürlich klar.
 

Seit einiger Zeit wurden aber die Wartezeiten immer länger, tagelang und sogar mehr. Seine Pinselkollegen vermochten ihn nicht zu trösten, denn sie waren ja nicht so verwöhnt wie er und wussten nicht, wie das ist, wenn man plötzlich nicht mehr beachtet wird. Ausserdem wurde es ihm zu langweilig, dauernd im Glas stehen zu müssen und keine Bewegung und Abwechslung zu haben. Er fragte sich, was wohl geschehen sei und ob evtl. seine Herrin krank wäre, könnte ja sein. Die Farben um ihn herum interessierten ihn fortan auch nicht mehr, da er sie nicht mehr mischen und auftragen konnte. Zusehends sah er sich seiner einzigen Lebensaufgabe beraubt, stehengelassen, verschmäht und überzählig geworden. Der Pinsel wurde immer trauriger und hing schon ganz schräg, quer durch seine Kollegen hindurch, im Glasbehälter. Er konnte dies alles nicht verstehen. 

Eines morgens, es war noch halbdunkel, gewahrte er durch die offen gelassene Türe in der Ecke eines andern Raumes einen hellgrauen Kasten, an dem sich bunte Bilder bewegten und von dem ein Piepsen und Zischen ausging. Ein flinkes Mäuslein bewegte sich auf einem Untersatz und dirigierte offensichtlich das Geschehen am Kasten durch seine lebhaften Bewegungen. Die Hand, von welcher es geführt wurde, war ja die gleiche, mit der er als Pinsel zusammengearbeitet hatte!! Eifersucht kam in ihm hoch. Ist diese unbedeutende, graue Maus wohl der Grund dafür, dass er dermassen vernachlässigt und stehengelassen wurde? Ist das der Dank für alle seine Leistungen, die er vorzuweisen hat? Ganze Stapel von Bildern sind entstanden, nur dank ihm. Und jetzt so etwas. Undank ist der Welt Lohn! Dafür würde er sich rächen, und zwar sofort! Er liess sich vornüber kippen, riss alle andern Pinselkollegen mit sich und stiess mit ihnen an die gefüllten Wasserbecher, die ihrerseits ins Wanken kamen und ihren ganzen Inhalt über Farben und Papiere ausgossen. Die chaotische Bescherung war komplett. Vorerst wurde dies jedoch noch nicht bemerkt. 

Emsig glitt währenddessen das Mäuschen über seinen weichen Teppich, nach rechts und nach links, nach oben und unten. Schliesslich wurde die Hand müde, die sich mehr von ihm leiten liess als umgekehrt und es wurde Feierabend gemacht. Am andern Tag, als die Chefin aus dem Haus gegangen war, fasste sich der Pinsel ein Herz und rief fragend zur Maus hinüber, was sie denn da in ihrer Ecke immer zu tun hätte. Und ob sie eigentlich wüsste, dass er bis anhin der Herr im Hause gewesen sei und auch gedenke, es zu bleiben. Lange sehe er nämlich ihrem Tun nicht mehr zu. Da brüstete sich die Maus mit den Worten: "Du verstehst halt nichts von Technik, das ist viel interessanter, als Deine Kleckserei. Mit mir kann die Herrin durch die Luft in alle Windrichtungen reisen. Auch haben wir einen unsichtbaren Briefkasten, wo ich täglich ihre Luftpost abhole. Aber ein einfacher Pinsel wie Du kann sich das natürlich nicht vorstellen." Der Pinsel sagte nichts mehr. Er dachte nur: "Dafür hat sie keine Ahnung von Kunst, die es schon lange vor der Technik gegeben hat."

Im übrigen wartete er gespannt auf die Reaktion seiner Herrin, wenn sie die von ihm angerichtete Bescherung bemerken sollte. "Das ist meine berechtigte Rache für erlittenes Unrecht", dachte er mit Genugtuung. Ganz wohl war im zwar nicht dabei; ob er sich vielleicht damit das verbliebene Restchen Zuwendung auch noch verscherzen würde?  

Im Hause war es still, niemand war anwesend - auch nicht der Haushund. Die Maus mochte nicht sprechen, da sie keine Antworten mehr bekam. Sie sinnierte der ganzen Sache nach und langsam stieg Eifersucht auch in ihr empor. Wieso hatte ihre Herrin nie etwas von der Existenz des Pinsels gesagt und sie im Glauben gelassen, sie sei ihr einziger Liebling? Sie, die Maus, hatte sich immer so angestrengt, um alle Wünsche ihrer Herrin prompt und zuverlässig auf den Bildschirm zu zaubern und liess sich dafür unermüdlich hin und her schieben, manchmal halbe Tage lang. Das war nicht gerecht. Die Maus konnte sich nicht damit abfinden, dass da noch jemand anders war, mit dem sie die Zuneigung ihrer Herrin teilen sollte. Sie würde ganz einfach einmal streiken, jawohl das würde sie tun - und zwar umgehend. Soll dann ihre Herrin schauen, wie sie ohne ihre Maus zurechtkommt. Gar nichts würde mehr gehen, dachte sie nicht ohne Rachelust. Das Bewusstsein ihrer Unentbehrlichkeit wog einen Moment lang ihr Beleidigtsein auf. "Sie kann sich dann mit ihrem (Einfalts-)Pinsel trösten und schauen, wer ihr die neue Post bringt." Und so bahnte sich die zweite Katastrophe an..... 

Nichtsahnend kam die Hausfrau nach Hause und wollte noch schnell den Kasten anknipsen, die Lichter leuchteten auf, das Tonzeichen verstummte, sie wartete. Aber oh Schreck, nichts geschah. Die Maus stellte sich tot und versagte ihren Dienst. Konsterniert und ärgerlich hielt die Frau inne und wurde stutzig. Schliesslich stellte sie den Apparat wieder ab und zog den Stromstecker heraus. Was soll das? Dann male ich halt wieder einmal, so wie früher, dachte sie, wandte sich ab und begab sich zum Malplatz. Dort aber wich sie entsetzt zurueck: "Was ist denn da passiert, wie sieht das aus, wer hat das getan?" 

Zwei, drei Tage lang wich sie den beiden unerfreulichen Orten aus und war öfter als sonst ausser Haus. Der Pinsel und die Maus wurden plötzlich Schicksalsgenossen und mussten die ungewohnte Stille und Unsicherheit teilen. Sie fühlten sich beide vernachlässigt und einsam und hatten keine Schadenfreude mehr an ihren Racheakten. Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit war schlimmer als ein Donnerwetter und dafür Beachtetwerden. "Hallo", piepste die Maus hinüber, "bist Du wach?" "Ach ja, ich kann schon lange nicht mehr schlafen". "Vielleicht sollten wir etwas unternehmen", meinte die Maus auf einmal ganz freundschaftlich, denn sie fühlte sich doch etwas mitschuldig, dass sie die Aufmerksamkeit derart auf sich gezogen hatte, dass er wegen ihr ganz vergessen worden war. "Ich werde mit meinem Chef, Herrn PC sprechen, obwohl er sich mir gegenüber auch nicht immer so fein verhält, denn stets steht nur er im Rampenlicht, wenn etwas gut geraten ist. Aber wenn es schief läuft, muss ich schuld sein. Aber in diesem Fall werde ich mich überwinden und ihm erzählen, was geschehen ist." Herr PC hörte sich die Sache mit ernster Miene an, denn diese Angelegenheit betraf auch ihn und den ganzen Betrieb. Er dankte der Maus für ihre wichtigen Informationen und überlegte, was zu tun sei. Es handelte sich um eine ausserordentlich ernstzunehmende Existenzfrage, wenn er und seine Leute nicht mehr gebraucht würden. Um Mitternacht würde er eine Krisensitzung abhalten, die Maus solle alle Beteiligten umgehend orientieren. 

So geschah es dann, dass Punkt 12 Uhr nachts alle ganz nah zusammenrückten, um sich zu beraten: Herr PC, Direktionspräsident, Herr Monitor, Pressechef, Herr Scanner, Techn.Direktor, Herr Drucker, Produktionsleiter, Frau Maus, Direktionsassistentin und Fräulein Modem, Leiterin der Telefonzentrale und dann natürlich Herr Pinsel als Mitbetroffener und Vertreter seiner Pinselkollegen. Bis tief in die Nacht wurde debattiert und letztlich zur Entscheidungsfindung ein Brainstorming durchgeführt. Dabei erschien plötzlich die zündende Idee: FUSION - Verknüpfung - HOMEPAGE .... das war die Lösung! Eine FUSION, bei der niemand seine Funktion verlieren würde. Denn das war ja gerade das Ziel des Zusammenschlusses. Eine einmalige, beispielhafte Sache. Herr Direktor PC liess dann noch Frau Verknüpfung zu sich kommen und ernannte sie umgehend zur Vizedirektorin und Leiterin der Koordinationsabteilung. Nun konnte er sich erleichtert zurücklehnen. Er hatte es wieder einmal geschafft und seinen Betrieb aus einer Krise geführt. Immerhin spendete er auch seinem getreuen Team das wohlverdiente Lob für dessen Einsatzbereitschaft, wohl wissend, wie wichtig die Verlässlichkeit seiner Leute auch für ihn selber ist. Damit war die Sitzung geschlossen und der wegweisende Entscheid gefallen; eine neue Zukunft konnte beginnen. Grosse Freude und Erleichterung machten sich breit. 

Am andern Morgen setzte sich die Frau mit bangem Erwarten an ihren PC und wartete ab, was geschehen würde. Ueberraschend wurde sie mit munteren Worten begrüsst und die Maus huschte flink wie ein Wiesel hin und her, auf und ab - als ob es nie anders gewesen wäre. Das klappt ja alles wieder tip-top! Plötzlich startete das Graphikprogramm auf, ein grosser elegant gebürsteter Pinsel lächelte ihr zu. Da fing der Drucker an zu zittern, der Scanner blitzte auf und fing an zu brummen und das Modem liess alle roten Lämpchen aufleuchten. Im Hintergrund klirrten hörbar alle Pinsel im Konfitürenglas.


Und die Lehr aus der Geschicht: 
Verknüpfen" ist besser als "trennen" und "verlassen"...
Trudi Kilchmann